HomeLandtagsarbeitBeschlussanträgeRecht auf Mehrsprachigkeit im Bildungssystem des Landes

Recht auf Mehrsprachigkeit im Bildungssystem des Landes

BESCHLUSSANTRAG.

Im Autonomiestatut wird in Artikel 19 das Recht auf den muttersprachlichen Unterricht geregelt. Dieses Recht, erkämpft vor mehreren Jahrzehnten, bildete eine Säule der Südiroler Autonomie. Als Schutz der Minderheit hat dieses Prinzip eine wesentliche Berechtigung.

Die sprachliche Welt der Gründer:innen der Autonomie ist jedoch nicht mehr dieselbe wie die sprachliche Realität, in der wir heute leben. Was damals nicht vorstellbar, ja nicht gewünscht war (und vielleicht auch heute strukturell nur erduldet wird) ist die Tatsache, dass italienisch- und deutsch, bzw. ladinischsprachige Südtiroler:innen sich einen Kultur- und Lebensraum teilen. Die Nähe mehrerer Kulturen ist ein Schatz von unvorstellbarer Größe, der außerhalb Südtirols als solcher wahrgenommen, innerhalb Südtirols aber oftmals nicht als Vorteil verstanden wird. Ein Teil dieses spezifischen Kulturraums sind auch viele Südtiroler Familien, in denen nicht eine der drei großen Landessprachen gesprochen wird, sondern zwei oder sogar drei. Diese Kinder wachsen nicht nur mit einer Mutter- oder Erstsprache auf, sondern mit mehreren. Dass das Prinzip des muttersprachlichen Unterrichts jenen Kindern, die nicht nur mit einer, sondern mehreren utter- oder Erstsprachen aufwachsen, nicht gerecht wird, war zu Zeiten der Verfassung des Artikel 19 nicht abzusehen bzw. nicht vorstellbar. Heute ist es so, dass den Kindern, die mit zwei oder mehreren utter- oder Erstsprachen aufwachsen, kein auf sie zugeschnittenes Schulsystem zur Verfügung steht.

Dasselbe gilt für die vielen Familien, in denen zwar lediglich eine Sprache gesprochen wird, die es aber als Mehrwert verstehen, ihre Kinder so früh wie möglich an die Zweit- oder Drittsprache des Landes heranzuführen.

Dass das Bedürfnis vieler Eltern, ihre Kinder die jeweilige zweite Sprache so gut wie möglich lernen zu lassen mit einer objektiven Notwendigkeit einhergeht, zeigen die Ergebnisse beider Kolipsi-Studien der Eurac. Denn das Sprachniveau der Schüler:innen in der jeweiligen Zweitsprache ist alles andere als gut. In der Kolipsi II-Studie (Daten des Schuljahres 2014/2015) wurde festgehalten, dass das Niveau von Deutsch bzw. Italienisch als Zweitsprache im Vergleich mit den Ergebnissen der ersten Kolipsi-Studie (Daten des Schuljahres 2007/2008) gesunken sei. Das Fazit der Forscherinnen ist ernüchternd bis düster: „Besonders nachdenklich stimmt dabei das Ergebnis […] in Anbetracht der Tatsache, dass für einen größer gewordenen Teil der Jugendlichen eine aktive Teilnahme am Alltagsleben der Zweitsprache in der Zweitsprache kaum oder nur schwer möglich ist“ (siehe Kolipsi II, 2017, S. 65).

Was passiert also in einem System, dessen Grundstruktur die Bedürfnisse der in ihm lebenden Menschen nicht mehr umfasst? Die Menschen werden sich bewusst, dass sie zwar das System nicht ändern, es aber behelfsmäßig auf ihre Bedürfnisse ausrichten können. So geschah es, dass immer mehr Südtiroler:innen ihre Kinder in die Schulen der Zweitsprache einschrieben und einschreiben. Der Wunsch, die eigenen Kinder gut auf die Südtiroler Realität – jene eines mehrsprachigen Landes – vorzubereiten, ist nachvollziehbar. Paradoxerweise kann jedoch genau diese Art der Behelfs-Lösung das System des muttersprachlichen Unterrichts gefährden. Denn jene Familien, die ihr Kind weiterhin in ihrer utter- oder Erstsprache unterrichtet wissen möchten, laufen dadurch Gefahr, wider Willen Teil einer mehrsprachigen Schule zu werden.

Kurzum: Das System ist an einem Kipppunkt. Man kann davor die Augen verschließen oder damit beginnen, die Realität als solche anzuerkennen und neben der italienischen und der deutschen Schule als Zusatzangebot für alle, die das wollen, auch mehrsprachige Bildungsformen anzubieten. Ein solches frei wählbares Zusatzmodell würde die derzeitige Situation entzerren und entlasten. Deutschsprachige Schulen bzw. italienischsprachige Schulen würden wieder ihrem Auftrag der Vermittlung in der utter- oder Erstsprache gerecht werden – und für alle jene, die dies wünschen, stünde eine Alternative bereit.

Daher beauftragt der Südtiroler Landtag die Landesregierung

  1. Sicherzustellen, dass das Recht auf freie Schulwahl laut Verfassung auch in Zukunft für Schüler:innen und deren Eltern gewährt ist.
  2. Projekte mehrsprachigen Unterrichts immer dann zuzulassen, zu unterstützen und zu fördern, wenn eine festzulegende Mindestanzahl an Eltern (z.B. 14 für den Kindergarten, 15 für die restlichen Schulstufen) ihre Kinder in eine entsprechende Abteilung einschreiben.
  3. Projekte mehrsprachigen Unterrichts dauerhaft wissenschaftlich zu begleiten.
  4. „Didaktik der Mehrsprachigkeit“ in der Ausbildung des Lehrpersonals sowie der pädagogischen Fachkräfte vorzusehen.
  5. „Didaktik der Mehrsprachigkeit“ in den Fortbildungen des Lehrpersonals und der pädagogischen Fachkräfte vorzusehen.
  6. Die Durchlässigkeit der Schulsysteme (deutsch und italienisch) zu verbessern und das Wechseln von der Rangliste des einen Systems in das jeweils andere durch die Zusammenarbeit der jeweiligen Schulämter zu erleichtern.
  7. In der Landesgesetzgebung und der Beschließungstätigkeit der Landesregierung zum gesamten Thema der Sprachdidaktik in Südtirol neben dem Konzept der „Muttersprache“ auch das Konzept der mehrfachen Muttersprache oder „Muttersprachen“ zu berücksichtigen.

Bozen, 24.03.2023

Landtagsabgeordnete

Brigitte Foppa

Riccardo Dello Sbarba

Hanspeter Staffler

Author: Heidi

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