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Die Kehrtwende hin zur Sicherheit

Hans HeissREDE ZUM HAUSHALTSGESETZ 2015
Die Haushaltsrede von Landeshauptmann Kompatscher kreist – wie bereits von zahlreichen Kollegen bemerkt – in ihrer Argumentation um eine zentrale Hauptachse, um den Begriff „Sicherheit“.
Dass der Landeshauptmann den Sicherheits-Aspekt so sehr in die Mitte rückt, muss umso mehr auffallen, als die Regierungserklärung vor einem knappen Jahr auf völlig andere Grundwerte abhob:
Die Rede vom Jänner 2014 handelte nur am Rande von „Sicherheit“, als vielmehr von Verantwortung und Freiheit. Im Zentrum stand die Verantwortung der einzelnen Bürgerinnen und Bürger, der Unternehmen, der Verantwortlichen in Land und Gemeinden, von denen jeder für sich, in Freiheit und Eigenständigkeit Südtirol entschieden voran bringen sollte. Es war eine Rede des Ordoliberalismus, die nach Jahren der Bevormundung, des Paternalismus und Steuerung von oben, Freiheit, Gestaltung und Verantwortung der einzelnen Bürgerinnen und Bürger, aber auch der Gewerkschaften, Verbände und Kategorien als neu zu stärkende Werte hervorhob.
Und nun aber, nach nicht einmal einem Jahr die Wende hin zur „Sicherheit“? Dies muss erstaunen, wohl auch befremden, gerade angesichts eines z.T. verjüngten Regierungsteams und eines Landeshauptmanns, dessen Jugendlichkeit trotz beginnenden Grauschleiers seines dichten, nicht lichten Haupthaars eine konstante Komponente seiner elastischen Erscheinung bildet.
Die Kehrtwende hin zur Sicherheit verweist auf dreierlei:

  • Der allgemeine Horizont der italienischen und der europäischen Politik hat sich verdüstert, die wirtschaftliche Lage bleibt konstant eingetrübt. Anders als noch Anfang 2014 erhofft, ist die italienische Konjunktur nicht angesprungen, der Effekt des Renzi-Bonus längst verpufft. Die Ukraine-Krise und die daraus resultierenden Sanktionen haben ebenso lähmend gewirkt wie die Stagnation des Euro-Raums und der zentralen Player Asiens. Klar wird vielmehr: Die europäische Krise bleibt chronisch, noch weit düsterer aber ist der italienische Krebsgang, der in einen langfristigen Abstieg führt, mit bleibend geminderter Wirtschaftsleistung und Konkurrenzfähigkeit, mit schlechter Produktivität und breiten Zonen der Deindustrialisierung und Verarmung. Der Abstieg scheint von historischer Dimension, ein unabsehbar währender Declino wie jener in der Renaissance scheint unausweichlich zu sein. In solchen Szenarien wächst der Wunsch nach Sicherheit, der freilich mehr Beschwörung ist als Tatsache.
  • Das italienische Desaster schlägt auch auf die Situation Südtirols voll durch: Durch seine wirtschaftlichen Kollateralschäden mit geschwächter Binnennachfrage in Tourismus und anderen Sektoren, durch anhaltend hohen Druck bei direkten und indirekten Steuern und Bürokratiekosten als weiterer Folge. Die Beziehungen Bozen-Trient-Rom sind formell zwar die von Koalitionspartnern, sie gleichen aber ein wenig jenen des Dreibunds von 1882 zwischen Italien, Deutschland und Österreich-Ungarn: Offiziell Freundschaft und Bündnispartnerschaft, untergründig anhaltendes Misstrauen und stetes Risiko. Der in diesem Hause bereits vorgestellte, nun offenbar auch im Senat akzeptierte “Sicherungspakt“ zwischen Südtirol und der Regierung trägt seinen Namen daher voll zu Recht: Er ist kein Sicherheitspakt, sondern bedarf steter Absicherung; dauernd eingeschlagener Haken; die in Form von Emendamenti und Durchführungsbestimmungen in brüchigem Gelände fixiert werden.
  • Neben dem größeren Rahmen rings um Südtirol erweist sich aber auch die innere Lage unseres Landes als hoch fragil, da die Nachbeben der Ära Durnwalder sich nicht nur als leichtes Vibrieren des politischen Untergrundes äußerten, sondern sich zur sismischen Katastrophe ausweiteten. Der im Februar aufgeflammte Rentenskandal hat nicht nur die Legitimation von uns beteiligten Mandataren tief geschwächt, sondern die Glaubwürdigkeit der herkömmlichen Politik insgesamt ausgehöhlt, bis kurz vor Ramsch-Niveau. Darüber hinaus war der Skandal auch eine Bewährungsprobe für die Medien, die sich der Herausforderung nur begrenzt gewachsen zeigten, oft sogar völlig versagten. Schließlich unterspült auch der Anlauf zur Gesundheitsreform das Vertrauen ganzer Bezirke zur Mehrheitspolitik und der Politik insgesamt, wird er doch von den viel berufenen „Leuten draußen“ nicht als notwendiger und nachvollziehbarer Prozess erlebt, sondern als Anschlag auf ihre Lebensgrundlagen. Anstatt der erhofften Stabilisierung des politischen Kräftefeldes nach SEL-Skandal und Generationswechel setzte sich die Destabilisierung mit einer Wucht fort, die alles Vorstellbare überstiegen hat: Der Mure von 2011/12 folgte – geologisch gesprochen – 2014 ein Bergsturz, der die politische Landschaft völlig neu definierte. Und diese Landschaft bröckelt gerade an ihren Rändern, zumal im Bereich Gesundheit, wo die angekündigte Reform die Loyalität der Grenzbezirke Südtirols spürbar untergraben hat.

Verständlich daher die Rede von der Sicherheit, die freilich in vieler Hinsicht ein Wunschbild bleibt, eine fromme Illusion. Die Rede von Sicherheit nimmt aber auch Abstand, sie setzt sich ab vom durchaus begrüßenswerten neuen Wertehorizont, von Freiheit und Verantwortung, der schneller preis gegeben wird, als dies dem Land und seinen Verantwortungsträgern gut tut.
Wir sind dazu verpflichtet, mit dem Risiko zu leben, mit dem Recht und der Pflicht, nach Sicherheiten zu suchen. Wir sollten dabei aber zur Kenntnis nehmen, dass die Ausgangsbedingungen Südtirols weiterhin ungleich besser sind als jene vieler anderer Regionen Italiens und Europas. Es gilt daher, weniger auf die Risiken zu starren, als vielmehr die Chancen neu zu bewerten, die weiterhin hoch sind, mit dem Ziel die Potenziale und Optionen unseres Landes zu stärken.
Ein Ausgangspunkt sollte die Einsicht sein, dass die Haushaltslage anhaltend gut ist, dass die Spiel- und Manövrierräume des Landeshaushalts höchst beachtlich sind. Mit 4,6 Mrd. € beträgt der Haushalt unseres Ländchens immerhin 1,5 % des deutschen Bundeshaushalts, der bekanntlich für 80 Mio. Bürger zu sorgen hat, ein Zehntel des Landeshaushalts von Bayern, das aber 25 mal größer ist als Südtirol. Die Pro-Kopf-Verschuldung erreicht in Nordrhein-Westfalen 33.000 € pro Einwohner. Wenn wir die italienische Staatschuld von annähernd 2300 Mrd. Euro umlegen auf die Pro-Kopf-Quote in Südtirol, liegen wir mit knapp 35.000 Euro annähernd auf dem Niveau des größten deutschen Flächenlandes; ohne die Schulden von Land und Gemeinden, die annähernd 2000 Euro erreichen.
Wir Grüne warnen also davor, aus Angst vor drohender Überschuldung einen harten Kurs der Austerität einzuschlagen, die Flucht anzutreten in die scheinbare Sicherheit überzogener Haushaltskonsolidierung, die vielleicht glänzende Zahlen beschert, aber auch lähmt und Chancen abschnürt. Wir halten den Kurs einer neuen Sparsamkeit für den richtigen Weg, da er innere Spielräume öffnen kann, aber nur dann, wenn er nicht in eine neue Sanierungsmanie umkippt. Aber Sparsamkeit ist nur eine Etappe eines notwendigen Pfades: Wir haben vielmehr darauf zu achten, dass Südtirol neue Stärken und Lebenschancen in den Bereichen fördert, die Zukunft versprechen. Und mehr denn je zuvor sollte Politik ihr Augenmerk richten auf die Sicherung von Gerechtigkeit, die den innersten Kern der Autonomie ausmacht.
Drei Königswege führen zu Zukunft und Gerechtigkeit: Bildung und Innovation, Gesundheit und gutes Leben, sozialer Ausgleich und würdige Lebensperspektiven für alle gefährdeten Gruppen und Personen.
Südtirol hat ein gut ausgebautes und stark finanziertes Bildungssystem. Wer aus anderen Regionen und auswärtigen Ländern die Schulen Südtirols besucht, erblasst oft vor Neid: Schulbauten und didaktische Ausstattung, die periphere Abdeckung ländlicher Räume mit Bildungsangeboten sind vorbildhaft: Schulergebnisse von PISA und Invalsi sind vielfach exzellent, die Durchlässigkeit besser als in vielen deutschen und österreichischen Ländern, die duale Ausbildung funktioniert. Und dennoch: Die Schulergebnisse münden zwar meist auch in Arbeitsplätze, aber zu selten in Berufsfelder, die die persönlichen Perspektiven der Arbeitenden dauerhaft verbessern. Es mangelt an Berufsbildern, wo die Energie und Leistungsfähigkeit junger Menschen kraftvoll zum Tragen kommt.
Wer einen Job erhält, findet anschließend oft nicht jene Aufstiegs- und Verwirklichungschancen vor, Perspektiven, die die ihm / ihr selbst nützen und die Produktivität von Unternehmen, Dienstleistern und Verwaltungen erhöhen. Südtirols Arbeitsmarkt ist zwar aufnahmefähig, aber durchzogen von einer gläsernen Decke, die eher das Mittelmaß fördert – in Bezahlung, Leistung, Aufstiegschancen,zudem nach Geschlechtern gebrochen. Einem hohen Stand der Grundausbildung folgt allzu oft der Stillstand von Routinejobs, die zu wenig Mehrwert und Wertschöpfung hervorbringen. Südtirol erreicht zwar einen Beschäftigungsrad von 70%, aber die hohe Zahl an KMU’s lässt oft die Potenziale der Beschäftigten ebenso verkümmern wie die Kleinheit und geringe Arbeitsteilung von Betrieben die Markt- und Produktivitätsräume der Unternehmen lähmen. Unser Bildungssystem ist daher wie ein Motor, der zwar zu hoher Tourenzahl fähig ist, aber wegen der falschen Übersetzung in den Berufsfeldern einen dürftigen Wirkungsgrad erzielt und seine Kraft nicht auf den Boden bringt.
Die wichtigste erneuerbare Energie des Landes, die Bildungsfähigkeit und die Leistungsbereitschaft von Jungen, bleibt so allzu oft ungenutzt. Oder Begabte gehen dort hin, wo sie ihre Fähigkeiten besser eingesetzt und entlohnt finden: In Hotels in London, in Krankenhäusern in Ingolstadt, an der Verwaltungsspitze des Kantons Graubünden, , als Fertigungssteuerer bei südwestdeutschen Autozulieferern, als digitale Wunderwuzzis in Seattle, als Landesrätin in Vorarlberg, als Moderatoren von Talkshows und „Wetten dass!“. All die heimatfernen Youngster sind eine veredelte Form der Emigration.
Der Exodus hat seinen Grund: In der regionalen Wettbewerbsfähigkeit unter 262 Regionen Europas findet man Tirol an 128. Stelle, das Trentino auf Platz 145, Südtirol aber im Schlussfeld auf Position 173, ähnlich wie im Bereich Innovation, wo Südtirol gleichfalls auf Platz 167 liegt, weit hinter dem auf Platz 89 postierten Tirol.
Auch wenn die Exportfähigkeit unseres Landes sichtlich gestiegen ist und diese mit über 2500 exportierenden Unternehmen auf einer breiten Palette beruht, so ist dennoch bedenklich, dass die Hälfte des Exportwertes auf nur 25 Unternehmen entfällt und dass 230, also nur 10% der Unternehmen, 90% des Exportwertes realisieren. Heißt im Klartext: Die Fähigkeit von Unternehmen, sich international und global in breiterem Maßstab durchzusetzen, bleibt auf eine überschaubare Zahl von der Stärke zweier Schützenkompanien beschränkt.
Ich halte diese Ziffern der Wettbewerbs- und Exportfähigkeit für ein stilles Drama Südtirols mitweit unterschätzten Ausmaßen. Sie bezeugen nicht nur, dass die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes der stets an der Spitze gerankten Lebensqualität weit hinterher hinkt, in der Südtirol immerhin auf Rang 40 liegt. Noch weit bedenklicher aber ist die subtile Botschaft, die sie ausstrahlen und die lautet: Junge, qualifizierte Menschen finden in Südtirol allzu häufig nicht jene Entfaltungschancen, die sie selbst und unser Land weiter bringen.
Keine Frage: Die meisten Unternehmen unseres Landes sind leistungsfähig und marktorientiert. Ihre strategische Größe und Ausrichtung aber bietet Innovation und Begabung viel zu wenig Raum, sodass Südtirol Jahr um Jahr einen schleichenden Aderlass von langfristiger Tragweite erleidet.
Auch ist es keinesfalls so, dass die Landesregierung den Ernst der Lage nicht erkannt hätte: IRAP-Senkungen und Steuererleichterungen zielen entschieden auf erhöhte Wettbewerbs- und Innovationsstärke, die Dotierung des Rotationsfonds, die Errichtung eines strategischen Fonds sind sinnvolle strategische Maßnahmen. Aber die Rahmenbedingungen sind weiter entschieden zu verbessern und müssen vorab auf jene Unternehmen abzielen, die junge, qualifizierte und motivierte Arbeitskräfte einstellen, auf Betriebe, die in innovativen und nachhaltigen Branchen investieren.
Und auch aus diesem Grund ist stets von neuem nach der Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme zu fragen, zumal der Hochschuleinrichtungen im Lande. Es genügt nicht, wenn die Universität Studierende in Rekordtempo zum Abschluss führt, sondern es ist genau hinzusehen, wo ihre Absolventen unterkommen und mit welcher Qualifikation sie zur Entwicklung Südtirols beitragen. Und nach wie vor trägt die Forschung der Universität auch nach 17 Jahren ihres Bestehens nicht substanziell zur Entwicklung Südtirols bei. Umso unnachsichtiger ist daher gegen jene Hochschullehrer vorzugehen, die die Universität zur Selbstbedienung missbrauchen, anstatt mit allen Kräften daran zu arbeiten, neben dem positiven Didaktik- und Abschlussranking der Freien Universität auch ihre Forschungsleistung nach oben zu bringen. Gerade im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien hat Südtirol etwa im Vergleich zum Trentino einen so auffallenden Rückstand, dass die Skandale an der Fakultät für Informatik ein echter Schlag ins Gesicht sind.
Die Förderung von Schülern und Studierenden und ihrer Begabung, der Ausbau nicht nur von Bildungs-, sondern auch von Allokationschancen ist aus dem Grunde umso notwendiger, weil in den kommenden Jahren die demografische Schere unbarmherzig zuschneidet. Die Haushaltsrede des Landeshauptmanns hat die Aufmerksamkeit auf das Altern der Gesellschaft gerichtet, auf die damit verbundenen Folgen für Gesundheit und Pflege. Ungleich mehr Sorgen aber bereiten das zunehmende Fehlen junger Menschen, die wachsenden Lücken der neuen Generationen. Dabei geht es ja nicht um Zahlen und Populationismus, nicht um ein natalistisches Gerede nach dem faschistischen Motto „Se le culle son vuote, la nazione muore“, sondern um das Versiegen jener Energie, Gestaltungskraft und jenes Erneuerungswillens, den eben Kinder und Jugendliche im besten Sinne verkörpern und mit denen sie eine Gesellschaft, zumal uns Ältere heraus fordern.
Im kommenden Schuljahr werden erstmalig die Schülerzahlen spürbar sinken, bereits jetzt sind Einschreibungen in Kindergarten rückläufig, die Zahlen eingestellter Lehrlinge sinken ohnedies seit Jahren. Dies ist eine europäische Entwicklung gewiss, die auch in Südtirol durchschlägt, erst recht in Italien. Aber in einem Land, das bereits jetzt Probleme hat, junge und Begabte an sich zu binden, sind die Folgen besonders gravierend. Der europaweite Wettbewerb um gute Junge, die immer weniger werden, wird weiterhin begabten Nachwuchs aus Südtirol abziehen, wenn kein Gegensteuern einsetzt.
Nicht die vermeintliche Kostenexplosion im Gesundheitssektor sollte Südtirol Sorgen bereiten, sondern die Implosion seines Nachwuchses, seines größten Schatzes. Südtirol ist nicht Italien, gewiss, noch weniger aber sollte es Florida sein, ein alpines Freizeit- und Rentnerparadies, aus dem sich viele Jugendliche, zumal die Besten, vertschüsst haben. Die Anpassung des Bildungsangebots an diese neue Situation der Schrumpfung ist ebenso notwendig wie Anreize für eine neue Industrie- und Unternehmenspolitik.
Zudem zeigen sich 2014 bewährte Säulen von Südtirols Wirtschaft erstmals in einer Strukturkrise. Der seit über zehn Jahren zumindest den Nächtigungen nach stetig wachsende Tourismus verzeichnet 2014 erstmals empfindliche Rückgange, verursacht durch den Einbruch der italienischen Gäste, bedingt durch Wetter und neuen Winter. Der italienische Markt schrumpft deutlich und ist gefangen in einer chronischen Abwärtsspirale, die durch leichtes Wachstum der deutschen Präsenz, das Aufholen der Schweiz und Österreichs nicht abzufangen sein wird.
Der Südtiroler Winter, der seit fünf Jahren bei rund 11.0 Mio. Nächtigungen stagniert und bei 37% des Jahresanteils eingefroren ist, wird 2014/15 massiv rückläufig sein. Dabei zeigt sich in aller Deutlichkeit: Ein gesättigtes Produkt wie die Wintersaison wird vom Klimawandel hart in die Zange genommen und hat kaum mehr Wachstumspotenziale. Angesichts dieser Entwicklung sind die scharfe Konkurrenz zwischen Schigebieten und die Hochrüstung mit Aufstiegsanlagen kleine Fluchten nach vorn, bei denen sich Verbände und Unternehmer aber der Frage entziehen, wie man denn anders mit dem Klimawandel umgehen könnte, als durch sprunghafte Vermehrung des Aufgebots an Schneekanonen und das Zusammenhängen von Schigebieten auf Kosten der Natur. Der Tourismus benötigt, wie die gesamte Wirtschaft im unausweichlichen, mit staunenswerter Hartnäckigkeit ignorierten Klimawandel, eine grundlegende Neubestimmung, ganz abgesehen von den von Frau Atz Tammerle zu recht aufgeworfenen Fragen des Steuerdrucks und der Bürokratie. Aber die Option eines leichteren, die Landschaft schonenden, auf neue umweltsensible Märkte zielenden Tourismus, der verstärkt in regionale Kreisläufe eingebunden ist, bleibt wohl ein Wunschtraum. Auch hier stellen wir fest: Schweigen des HGV, kaum Antworten der Universität. Der frühere HGV-Präsident hätte längst aufgeschrien und zum Handeln aufgefordert, er hätte in polterndem Meister-Sound zwar problematische Empfehlungen gegeben, er war zumindest aber erfüllt von einem Problembewusstsein, das seinem auf Beruhigung und Abwiegelung zielenden Nachfolger abgeht. Tourismus aber wird, dies zeigt das Jahr 2014, radikal neu zu denken sein, als Herausforderung an eine junge Unternehmergeneration, die das “Weiter so!“ grundlegend in Frage stellt.
Auch die Gesundheitsversorgung steht vor dem Südtiroler Grunddilemma, wie es weiter gehen soll. Die Landesrätin Stocker ist mit bewundernswertem Mut, aber auch mit ebenso erstaunlicher Waghalsigkeit an die Reform herangegangen und demonstriert dabei Entschiedenheit und Härte auch im Vergleich zu dem sie flankierenden Männer-Management, das mitten im Umbruch das Handtuch wirft, nicht immer aus freien Stücken. Die sog. Reform ist zunächst ein Lehrbeispiel dafür, Kollegin Foppa hat dies oft betont, wie man ein Kommunikationsdesaster anrichtet, in dem kaum ein Fehler ausgelassen wurde.
Die Ansage der Reform, zugleich Ankündigung von Sparplänen, allerdings mit nur undeutlich angedeuteter Zielrichtung. Unterschiedliche Kommunikation zwischen der politisch verantwortlichen Landesrätin und den Exekutoren auf Beamtenebene, Anhörung der Betroffenen ohne wirkliche Partizipation, all dies vor dem Hintergrund eines seit vielen Jahren schwelenden Misstrauens und halbierter Reformschritte in der Ära Theiner und des unvergessenen Otto des Großen.
Dazu eine teils verantwortungsbewusste, teils empfindsame und um Privilegien bangende Ärzteschaft samt Interessenvertretungen, die Differenz zwischen Spitals- und Basisärzten, die ungewisse Rolle von mittlerem Sanitäts-Management und Pflegepersonal. Hier wäre ein radikal partizipativer Ansatz hilfreich gewesen, der im Vorfeld zwar exakte Sparziele definiert, aber mit den Betroffenen zunächst Spielräume ausgelotet hätte, ohne vorschnell Schließungen in den Raum zu stellen. Natürlich ist es leichter, aus der gefestigten Oppositionsrolle heraus zu bemängeln, anstatt die Schwere der Verantwortungslast zu tragen, unter der sich die Landesrätin mit Mut und Würde abmüht. Aber Kommunikation ist in der Politik ein zentraler Ausgangspunkt, ebenso wichtig wie Sachkenntnis und Entscheidungsprozesse.
Wir Grüne sind von drei Aspekten der Reform nicht überzeugt: Nicht von den unbedingten Sparzwängen, nicht von der Stoßrichtung der Reform und nicht von ihren Konsequenzen.
Wir sehen zwar die Notwendigkeit der Einsparung, aber nicht den Grund für die dramatische Eile. Gewiss ist das Budget mit rund 1,2 Mrd. hoch und der stärkste Anteil im Landeshaushalt, es bewegt sich aber volkswirtschaftlich in Parametern weit unterhalb der EU-weiten Normen. Mit rund 6,5% des Bruttoinlandprodukts liegen die Gesundheitskosten unseres Landes gemäß OECD-Indikatoren weit unterhalb der Werte von Deutschland und Österreich mit rund 11%, weit unter Schweden und Italien mit 9,5% und 9,3%, sondern annähernd auf dem Niveau Polens und Luxemburgs. Dem günstigen Wert entsprechen auch die vorteilhaften Pro-Kopf-Kosten des Gesundheitssystems von rund 2500 € pro Person, auch hier weit unter den Vergleichswerten Deutschlands und Österreichs mit rund 3500 Euro pro Person, weit unter dem italienischen Mittel von 3000 € annähernd auf Stand Portugals und Sloweniens. Zudem wurde in den letzten Jahren bereits erheblich eingespart, sodass der Sparkurs gewiss entschieden fortzusetzen ist, aber doch wohl zunächst ohne grundstürzende Reformen.
Weit sinnvoller erschiene es uns, zunächst Verwaltung und Management durchzuchecken und dortige Potenziale abzuspecken, Synergien und Kooperationen auszubauen, um dann in aller Ruhe an die Reform zu gehen. Die Frage anzugehen, wie die Basisärzte neu gestärkt werden können, mit welchen Anreizen dem drohenden Mangel der Kategorie begegnet werden kann, wie sich auch in diesem Bereich die drückende Nachwuchsfrage lösen ließe. Der unbedingte Wille zum Sparkurs, im O-Ton von Direktor Ossi Mayr „Sonst fahren wir den Karren an die Wand!“, weckt aber den Verdacht, dass das öffentliche Gesundheitssystem auf diese Weise entscheidend geschwächt werden soll. Der Ruf von Wirtschaft und erster Tageszeitung nach striktem Durchexerzieren der Reform wirkt nicht eben beruhigend, sondern weckt eher den Verdacht, dass hier andere Ínteressen im Spiel sein könnten. Der Wunsch der Wirtschaftssektoren nach Neuallokation von Ressourcen, nach Zugriff auf freie Haushaltsmittel, aber auch der Drang nach Aufbau eines privaten Medizinsektors scheint sich hier abzuzeichnen. Das wäre eine verhängnisvolle Trendwende, da die überwiegend Öffentliche Gesundheit zu den großen Errungenschaften nicht nur des Sozialstaates, sondern auch der Südtirol-Autonomie rechnet.
Aber nicht nur dieses grundlegenden Eckwerte des Sozialstaats und Südtirols würden preis gegeben, wenn etwa kleine Krankenhäuser strukturell grundlegend geschwächt würden. Es geriete auch eine Grundsäule unseres Landes unter Druck, die sorgsame Aufwertung der peripheren Räume. Eine radikale Ausdünnung des medizinischen Angebots im Wipptal, im Hochpustertal und im Vinschgau bedeutet auch ein Aderlass an Qualifikation, Berufsbildern, Arbeitsplatzangeboten und gesellschaftlichem Zusammenhalt, sie wäre ein Anschlag auf Gemeinsinn und Gemeinwohl in sensiblen Räumen. Die Geburtenstationen in Sterzing, Innichen und Schlanders sind nicht nur reale, sondern auch symbolische Lebensquellen, die anzutasten viel mehr bedeutet als die Erfüllung von Benchmarks und staatlichen Vorgaben. Die Auflagen des Staates zur Größenordnung von Geburtenstationen mögen zwar bestehen, sie sind aber zu hinterfragen und ihnen mit nachhaltigem, autonomieerprobtem Widerstand und Abstrichen zu exekutieren. Zudem ist uns klar: Die volle Effizienz der Reform vollzieht sich nicht in kleinen Krankenhäusern, sondern in Bozen und der demonstrative Zugriff auf die Peripherie dient vor allem auch dazu, um Eingriffe in der Landeshauptstadt zu legitimieren.
Aber denken Sie denken Sie auch daran, Frau Landesrätin: Kleine Krankenhäuser stehen auch für ein Bild von Humanmedizin in bestem Sinne, die in erster Linie den Menschen dient, die kranke Männer, Frauen und Kinder in ihrer existenziellen Not oft auf andere Weise und besser trägt, ihnen mehr Geborgenheit verspricht als effiziente Hochleistungsmedizin eines großen Klinikkomplexes.
Die Bemerkungen zur Gesundheit führen abschließend auf das Feld des Sozialen, das am meisten Sorgen bereitet. Die Aushöhlung der Kaufkraft, die Schwächung der Einkommen und die seit rund 10 Jahren wachsenden Einkommensunterschiede liegen auf der Hand. Noch um das Jahr 2000 hatten viele Bürgerinnen und Bürger unseres Landes den Eindruck, der soziale Fahrstuhl ginge nach oben, die Versprechen eines besseren Lebens seien nicht leer, sondern zum Greifen nahe. Die sicheren Zeiten sind aber leider nur mehr verwehte Erinnerung: Reallöhne und Gehälter der mittleren und unteren Einkommensgruppen wachsen nicht mehr, sondern schrumpfen Jahr um Jahr, besonders beeindruckend vor allem im unteren Lohn- und Gehaltssegment. Einem mittleren Einkommen von 27.000 € stehen weite Ausreißer nach unten entgegen, mit einem sich stetig ausweitenden Niedriglohnsektor. Während Steuerlast (GIS), Abgaben und Preise trotz Deflation weiter steigen, sinken die Einkommen spürbar. Wer Familie hat, wird nicht belohnt für den gesellschaftlichen Mehrwert, sondern erleidet trotz aller Bemühungen des Landes spoprbare Nachteile. Ganz zu schweigen von Rentnern und Rentnerinnen, von denen die Hälfte nicht die 100-Euro-Marke schafft und zum Teil weit unten rangiert. Die schleichende Verarmung wird zwar beobachtet, aber nicht systematisch, liegt doch der letzte Armutsbericht bereits sieben Jahre zurück. Gegen Verarmung und Reallohnverfall agiert keine starke Lobby, daher findet sie auch in der Öffentlichkeit abseits von Gewerkschaften, Caritas und anderen Solidaritätsorganisationen nur zerstreut Aufmerksamkeit. Aus unserer Sicht sollten Armutsbekämpfung und Reallohnverfall Priorität genießen und gerade jetzt in einer Übergangsphase zu einer in Südtirol besseren Konjunktur weit mehr Mittel eingesetzt werden, um der jetzt so fatalen Schwächung entgegen zu wirken. Große Sorge in diesem Zusammenhang gilt auch der Pflegesicherung, für die der Begriff „Sicherung“ immer weniger zutrifft. Die in den Haushalt eingestellten Mittel sind zwar bei annähernd 120 Mio. fixiert, der reale Bedarf liegt mit 190 Mio. jedoch weit über dieser Marke und wird auch durch Zufluss regionaler Mittel kaum aufgewogen. Wie soll die künftige Neuaufstellung des Pflegebereichs gestaltet werden, lautet eine Grundfrage an die Landesrätin und den LH – wir bitten um Antwort.
Besondere Beachtung verdienen schließlich Migration und Flüchtlinge: Die vielfältigen Fragen, Herausforderungen und Probleme, aber auch die Chancen der Zuwanderung müssen eingehender als jetzt behandelt werden. Die Abschwächung der Zuwanderungsbewegung ist auffällig, die Lage und Einbindung von Migrantinnen und Migranten, vor allem von Jugendlichen und Frauen, ins System Südtirol bleibt jedoch prekär. Vor allem zur Einbeziehung Jugendlicher ist jetzt noch ein Zeitfenster von wenigen Jahren offen, das jedoch nur unzulänglich genutzt wird. Landesrat Achammer hat sich die Migrationsfrage mit Entschiedenheit und Kompetenz zu Herzen genommen, uns scheint aber auch, dass die Fülle seiner Agenden nicht jene Aufmerksamkeit ermöglicht, die dieser zentrale Zukunftssektor verdiente. Ernstlich zu erwägen wäre, ob nicht eine Stabsstelle unter kompetenter und erfahrener Leitung hier nicht eine Reihe von Agenden entwickeln sollten, um stärker zu steuern als zu reagieren. Junge Migranten bilden ein großes Potenzial, aber es muss systematisch gefördert und ermutigt werden, mit einem Einsatz, den wir jetzt noch vermissen. Und sie sollen sich in Südtirol wohl fühlen, sich diesem Lande verbunden fühlen, wie der Schütze Valdez, der bei der Algunder Kompanie als landesüblicher Migrant mit marschiert.
Am Rande nur ein Hinweis zur Flüchtlingsfrage: Hier hat Bischof Muser gestern Grundlegendes gesagt, was aus seinem Munde weit eher angenommen wird als von Grüner Zunge. Wir sollten in diesem Bereich ein wenig mehr Landeseinheit pflegen und uns das Bundesland Tirol zum Vorbild nehmen, das sich mit manchen Widerständen, aber insgesamt größtem Einsatz um die Flüchtlingsaufnahme müht. Wenn nördlich des Brenners die Aufnahme 10-mal so hoch ist als in Südtirol, dann sollten wir uns ernstlich Gedanken machen, ob wir wirklich jene Solidarität üben, die dem europäischen Ranking unseres Landes entspricht. Unsre Glaubwürdigkeit und Europareife hängen maßgeblich vom Umgang mit diesen oft Ärmsten der Armen ab.
Die Autonomie, zu der wir Grüne unverbrüchlich stehen, ist im Grunde ein großes Gerechtigkeitsversprechen, als Instrument des Ausgleichs zwischen Sprachgruppen. Diesen Maßstab sollten wir ernst nehmen, nicht nur wenn es um die Sprachgruppen und Zusammenleben geht, sondern vor allem im sensiblen Bereich des Sozialen, der auch anzeigt, wie es um die Befindlichkeit der Autonomie steht.
Noch ein Wort an Sie persönlich, Herr Landeshauptmann: Kollegin Brigitte hat sehr gut den Stil beschreiben, der Sie und Ihre Regierung charakterisiert. Es ist ein Stil in Schwarz-Weiss, von dem Effizienz, aber auch Kühle und Distanz ausgehen. Wir haben Sie in diesem Jahr ein wenig näher kennen gelernt und sehen, worin ihre Vorzüge liegen: Sach- und Problemlösungskompetenz, Controlling und ein wenig Neigung zum Perfektionismus, auch in Absetzung zum genialischen Gewurstel Ihres Vorgängers, der ein Meister der schnellen Schusses aus der Hüfte war, der plötzlichen Eingebungen und Rosstäuschertricks, die wir auch ein wenig geliebt haben.
Sie sind anders: Ein wenig sehen Sie sich in der Rolle des Chefsanierers der Südtirol AG, des Topmanagers, der Fehler repariert und neue Anschlüsse herstellt, weniger Landeshauptmann in der martialischen Anmutung dieses Titels, als Leitender Angestellter des Landes, als Südtirol-Ceo, der sich dann in 10 Jahren wohl an die Spitze ein wirklichen Unternehmens setzen wird. Es ist ein Stil, der eine Leerstelle hinterlässt, der Wünschen vieler Bürgerinnen und Bürgern nach Nähe und starker, ständig präsenter Leadership nicht entgegen kommt, ohne jenen wärmenden landesväterlichen Habitus den sich kleine Länder eben wünschen. Wir sehen auch die Defizite dieses Stils mit seinem leichten Hang zur Besserwisserei und seiner Neigung, eher Persuasion als Partizipation zu pflegen.
Sie sollten aber auch wissen, dass wir trotz unserer politischen Distanz und Vorbehalte den Ernst, die Expertise und das Engagement schätzen, mit denen Sie dieses keineswegs leichte Erbe verwalten. Wir ahnen auch den Preis, den Sie und Ihre Familie für dieses Amt entrichten, der wohl ein wenig höher ist, als Sie dies erwartet hatten. In diesem Sinn unseren Respekt, aber auch unsere kritische und entschiedene Opposition, mit jenen Vorbehalten, aber auch Lösungsvorschlägen, für die wir Grüne einstehen.
Hans Heiss
BZ, 16.12.2014

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